« zurück zur Übersicht  
 

Die Ahnenpyramide,
Hörbuch


»Die vom ORF 1983 in 25 Sendungen als ›Roman in Fortsetzungen‹ ausgestrahlte Hörspielfassung, gesprochen von der gefeierten Schauspielerin Maria Becker, wurde zum grenzübergreifenden Medienereignis«. Dieser PR-Eintrag auf den Verpackungen der Hörbuchfassung des Romans Ahnenpyramide von Ilse Tielsch verspricht nicht zu viel: Maria Becker sorgt dafür, dass der großartige epische Text zu einem beeindruckenden Hörerlebnis wird. Die Diktion der Schauspielerin vermeidet konsequent – wie auch die Autorin – gleichermaßen überhöhendes Pathos und modische Schludrigkeit.

Ilse Tielsch, im südmährischen Auspitz (heute Hustopece) geboren, wendet in ihrem Roman eine imponierende Methode an, um sich der Geschichte ihrer Vorfahren zu versichern: Der Klappentext der Buchausgabe gibt Auskunft über den Impuls zur Niederschrift der Familiengeschichte: Ein Fragebogen gab den Anstoß. In dreißig Zeilen sollte die Autorin niederschreiben, was der Begriff Heimat für sie bedeutet. Ilse Tielsch nahm die Spur auf. Sie sieht sich als Kind vor pyramidenförmig angeordneten Kästchen sitzen, in denen die Namen und Daten derer verzeichnet sind, von denen sie herkommt. An ihnen tastet sie sich in die Vergangenheit zurück. Im Buch verbinden sich historische Fakten, Zitate aus Dokumenten mit recherchierten Details, darüber hinaus aber auch mit realitätsorientiert erfundenen Geschichten. Diese liebevollen Ergänzungen sind keine Erfindungen im romantischen Sinn, sondern Erweiterungen auf der Grundlage genauer Mentalitäts- und Milieukenntnisse. Ein gerettetes Foto kann sich als Impuls für die Lebensgeschichte einer Person aus der Ahnenpyramide erweisen.

»Anni, das Kind, aus einer der alten Photographien herausnehmen, es ablösen aus dem Papier, es aus der Erstarrung erlösen. Es hüpft ungeschickt Gehsteige entlang ...«. Mit dem Zauber literarischer Kreativität werden auch längst verstorbene Vorfahren zum Leben erweckt. »Was wir sind, hat lange vor uns begonnen.« Ilse Tielsch kennt die Gefahren dieser Form von Auferstehung. Andere Autoren, die das Schicksal der Vertreibung erlitten haben, erliegen häufig der Versuchung, die erzählte Vergangenheit ins Licht des Idylls zu tauchen. Die Ahnenpyramide hingegen ist dem Grundsatz der Autorin verpflichtet: »Ich wehre mich dagegen, […] schattenlose Bilder zu malen.« Konsequenterweise erzählt Ilse Tielsch von Not und Lebenslust, von Rückschlägen und Hoffnungen, von materiellem Elend und von klugen Überlebensstrategien.

»Hinhören, wenn die Altgewordenen sich erinnern« und »Aufschreiben, wie es gewesen ist. Versuchen, die Lücke zu füllen …«. Da aber die Familien- und Heimatgeschichte, die sich über Jahrhunderte erstreckt, schließlich auf den Heimatverlust zuläuft, erhalten selbst die heiter beschwingten Passagen eine melancholische Akzentuierung. Dieses »Verloren, o verloren« als Grundgefühl, wie es Thomas Wolfe einst in »Look Homeward, Angel« formulierte, bringt Maria Becker ohne Sentimentalität zum Ausdruck. Die deutsch-schweizerische Schauspielerin hat in dieser ORF1-Produktion die Melodik ihrer Stimme mit bewundernswertem Einfühlungsvermögen an den Geist der Tielsch-Erzählung angepasst. So wird ihre Rezitation zur Interpretation, zur Sprachmusik, die sich harmonisch mit den unterlegten Auszügen aus Dvořáks 8. Symphonie verbinden. Das immer wiederkehrende Auftaktmotiv aus dem Adagio des zweiten Satzes wirkt wie eine Botschaft: Es unterstreicht mit seiner Melancholie die tragische Entwicklung der böhmisch-mährischen Geschichte, erinnert aber zugleich daran, dass es eine Zeit gab, in der deutsche Schriftsteller und tschechische Komponisten ohne nationalistische Kontroversen zusammenarbeiteten. Insofern ist dieses Hörbuch auch ein Appell, sich des friedfertigen Zusammenlebens in Böhmen und Mähren zu erinnern. Und die im wav-Format gespeicherten Kapitel garantieren für neuneinhalb Stunden nicht nur Hörerinnen und Hörern, die das Schicksal der Vertreibung selbst erlebt haben, einen ganz außergewöhnlichen Hörgenuss.

Erich Pawlu